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Ein totes Kind und doppelte Schatten


Ein totes Kind und doppelte Schatten


Timo Rossik ist erfolgreicher Geschäftsmann der ›Prosoft‹, eines Münchner IT-Unternehmens von internationalem Rang. Kurz bevor er mit einem wichtigen New Yorker Kunden in Vertragsverhandlungen tritt, gerät sein Leben plötzlich völlig aus den Fugen. Unter mysteriösen Umständen werden kurz nacheinander seine kleine Tochter und seine Frau in Peru ermordet. Rossik gerät zunächst selbst in Verdacht. Als er merkt, dass er verfolgt wird, scheint ihm niemand zu glauben. In seiner Not wendet er sich an den Psychiater Thorlef Engelcke, der ein Freund seines Kompagnons der ›Prosoft‹ ist. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich bald herausstellen wird …

„Ein rundherum spannender und vielschichtiger Thriller.“

Vito von Eichborn



Leseprobe

Ein totes Kind und doppelte Schatten
Der kleine weiße Sarg schlingerte bedenklich auf den runden Bohlen, die man zu einem hölzernen Rost zusammengebunden hatte.Vier nach außen gekrümmte Männerhände trugen die kindliche Last so würdevoll wie möglich den höckerigen Weg zur Kapelle San Crucecita de Berón hinauf. Doch manchmal, wenn einer der Träger in ein vom Regen ausgewaschenes Loch tapste oder an einen Stein stieß, der aus dem Boden lugte, stellte sich der Sarg fast quer, drohte auf der schiefen Fläche herab zu schlittern, wären nicht sofort von links und rechts weitere helfende Hände zur Stelle gewesen, die ihn wieder in eine vorteilhaftere Lage rückten. Timo Rossik ließ sich inmitten der großen Menge dahintreiben, torkelte mehr, als dass er einen Fuß gezielt vor den anderen setzte. Nur manchmal stieß er ungestüm drängelnden Einheimischen den Ellbogen in die Rippen, teils aus Wut, teils um wieder etwas Raum zu gewinnen, um nicht zu sehr vom Sarg und von Verónica, seiner Frau, abzudriften. Aber meist starrte er nur auf die bedrohlich schaukelnde Totenbahre mehrere Köpfe vor ihm, zu jedem Moment bereit, sich durch die Menge zu fräsen, um das Schlimmste, das Abgleiten des Sarges, noch abzuwenden. Er schnaufte schnell, fast keuchend, was einmal an der Höhe des Berglandes von über viertausend Metern lag, aber auch daran, dass er immer wieder – den Blick auf die Bahre fixiert – den Atem anhielt, um danach doppelt so viel Luft schöpfen zu müssen. Timo litt aus tiefster Seele unter dem Schicksal, das der kleinen Chantal, seinem einzigen Kind, widerfahren war. Er fühlte, als wäre ein Stück dieser Seele wegamputiert worden und mit ihm ein Teil seiner wertvollsten Gefühle. Er hatte noch zwei Valium geschluckt, um der Anspannung während der Beisetzung einigermaßen gewachsen zu sein, um nicht los zu schluchzen vor all diesen so fremden Menschen, die sein Leid nicht mit empfanden, nicht wirklich jedenfalls. Schon den ganzen gestrigen Tag begingen sie das „Velorio del Angelito“, was bedeutete, dass sie feierten. Feierten, weil einem Kind Einlass zum Himmel gewährt wurde. Einem Kind, noch frei von allen Sünden. Nicht wie sonst irgendein Erwachsener, der sein Leben mit Tausenden Sünden angehäuft und bis zu seinem unseligen Ende mit sich herumgeschleppt hatte. Beichte hin, Beichte her! Ein Kind, so jung und rein! „Hacer volar al angelito!“, das Engelchen fliegen lassen! Worte von Versen vieler Lieder, die sich immer wiederholten. Sie hatten getanzt, Feuerwerkskörper abgebrannt. Niemand durfte weinen; denn es war ein Geschenk, etwas Besonderes, wenn ein Angelito zum Himmel gerufen wurde. Auch die Mutter hatte nicht zu weinen und schon gar nicht der Vater. Aber von dieser Haltung war Timo meilenweit entfernt. Er hatte das Velorio gar nicht mit gemacht; hatte in einer Ecke des Patios im Hause seiner Schwiegereltern dem Treiben angewidert zugesehen. Er wäre gern mehr als einmal zu der Menge gestürzt, hätte sie angeschrieen und am liebsten verscheucht. Aber er war zu matt gewesen, zu niedergeschlagen, ohne jedes Feuer. Jetzt aber bohrte diese Wut wieder in ihm, wollte sich Luft machen, wollte sich äußern, zumindest in seinen unterdrückten Gedanken. Diese Wut auf alles! Auf alles, was und wer ihn umgab: Dieses dreckige Nest Berón, dieser schmutzige Weg, den sie jetzt hinaufstiegen, eingerahmt von einer zusammengekleisterten Kette von Häusern, die es noch nicht mal schafften, zwei Meter hoch zu wachsen. Unverputzte, lehmige Wände, die vom Boden her grünlich besudelt waren; unvollendete Ziegelaufbauten auf manchen dieser armseligen Hütten, ohne geringste Anzeichen dafür, einmal fertig gestellt zu werden. Berón: Viertausendzweihundert Meter über dem Meeresspiegel! Mit einem Sauerstoffgerät schlief er jede Nacht, wenn er überhaupt schlief! Wenn es wenigstens noch Tarma wäre, zwölf Kilometer von Berón entfernt, größer, niedriger gelegen, wenn auch nicht viel ansehnlicher aber näher zur geteerten Strasse, die von Huancayo nach Lima führte. Die Menschen, die in Berón wohnten, sie lebten nicht viel anders als vor ein paar hundert Jahren; Menschen, die den Tod eines Kindes zum Feiern nutzten, sich besauften. Er fluchte über Oscar und Juana, seine Noch-Schwiegereltern. Zwar lebten sie nicht so ärmlich, wie die meisten anderen in Berón, waren rechtschaffen und bescheiden, führten einen Abasto, einen kleinen Lebensmittelladen, im Zentrum des Kaffs. Und sie wohnten immerhin zweistöckig mit einem kleinen Patio in der Mitte des viereckigen Baus aus Adobe. Etwas spanisches Blut ließ sie weniger indianisch aussehen. Aber sie und er waren sich nie näher gekommen, nicht vor ein paar Jahren, als sie vier Wochen zu Besuch in München waren und schon gar nicht hier in Berón, wo er zweimal Verónica zuliebe hergekommen war. Veronica hatte vom spanischen Blut weit mehr als ihre Eltern profitiert; sie war eine exotische Schönheit gewesen, als er sie völlig verzückt und vernarrt nach Deutschland verschleppte und sie – allen Unkenrufen von Freunden zum Trotz – in München heiratete. Nur standesamtlich lief das ganze ab, um nicht ihre Eltern und Verwandten dem illustren Kreis vorführen zu müssen. Er hatte eben heimlich geheiratet, so wie das auch ein paar seiner Freunde in Las Vegas gemacht hatten, aus welchen Gründen auch immer. Ein Irrweg war diese Ehe gewesen, jetzt noch mehr, da Chantal, der einzige verbliebene Lichtblick in den letzten Jahren, tot war. Und dass es Chantal nicht mehr gab, daran trug Veronica eine Mitschuld. Eine gewaltige sogar! Sie hatte sich urplötzlich aus dem Staub gemacht. Mit Chantal! Und feige hatte sie es angestellt! Heimlich, als er verreist war! Ja, es hatte eine Auseinandersetzung am Abend vor seiner Reise gegeben, wie so oft und diesmal hatte er ihr sogar eine Ohrfeige gegeben, doch eigentlich nur, um sie aus ihrem Wahn schlimmster Anschuldigungen gegen ihn, die sich auf nichts gründeten, wach zu rütteln. Wieder drohte der Sarg fast auf den Boden zu rutschen. Timo zerteilte sofort mit rudernden Armen die Menge, stieß vor, um noch einzugreifen, rempelte dabei leichtfertig eine alte Frau um. Wütende Blicke von Männern mit derber, dunkel gegerbter Indianer-Haut streiften ihn. Feindselige Mienen.