Ein totes Kind und doppelte Schatten
Der kleine weiße Sarg schlingerte bedenklich auf den runden Bohlen, die man zu einem
hölzernen Rost zusammengebunden hatte.Vier nach außen gekrümmte Männerhände
trugen die kindliche Last so würdevoll wie möglich den höckerigen Weg zur Kapelle San
Crucecita de Berón hinauf. Doch manchmal, wenn einer der Träger in ein vom Regen
ausgewaschenes Loch tapste oder an einen Stein stieß, der aus dem Boden lugte, stellte sich
der Sarg fast quer, drohte auf der schiefen Fläche herab zu schlittern, wären nicht sofort von
links und rechts weitere helfende Hände zur Stelle gewesen, die ihn wieder in eine
vorteilhaftere Lage rückten.
Timo Rossik ließ sich inmitten der großen Menge dahintreiben, torkelte mehr, als dass er
einen Fuß gezielt vor den anderen setzte. Nur manchmal stieß er ungestüm drängelnden
Einheimischen den Ellbogen in die Rippen, teils aus Wut, teils um wieder etwas Raum zu
gewinnen, um nicht zu sehr vom Sarg und von Verónica, seiner Frau, abzudriften. Aber meist
starrte er nur auf die bedrohlich schaukelnde Totenbahre mehrere Köpfe vor ihm, zu jedem
Moment bereit, sich durch die Menge zu fräsen, um das Schlimmste, das Abgleiten des
Sarges, noch abzuwenden. Er schnaufte schnell, fast keuchend, was einmal an der Höhe des
Berglandes von über viertausend Metern lag, aber auch daran, dass er immer wieder – den
Blick auf die Bahre fixiert – den Atem anhielt, um danach doppelt so viel Luft schöpfen zu
müssen.
Timo litt aus tiefster Seele unter dem Schicksal, das der kleinen Chantal, seinem einzigen
Kind, widerfahren war. Er fühlte, als wäre ein Stück dieser Seele wegamputiert worden und
mit ihm ein Teil seiner wertvollsten Gefühle. Er hatte noch zwei Valium geschluckt, um der
Anspannung während der Beisetzung einigermaßen gewachsen zu sein, um nicht los zu
schluchzen vor all diesen so fremden Menschen, die sein Leid nicht mit empfanden, nicht
wirklich jedenfalls.
Schon den ganzen gestrigen Tag begingen sie das „Velorio del Angelito“, was bedeutete, dass
sie feierten. Feierten, weil einem Kind Einlass zum Himmel gewährt wurde. Einem Kind,
noch frei von allen Sünden. Nicht wie sonst irgendein Erwachsener, der sein Leben mit
Tausenden Sünden angehäuft und bis zu seinem unseligen Ende mit sich herumgeschleppt
hatte. Beichte hin, Beichte her! Ein Kind, so jung und rein! „Hacer volar al angelito!“, das
Engelchen fliegen lassen! Worte von Versen vieler Lieder, die sich immer wiederholten. Sie
hatten getanzt, Feuerwerkskörper abgebrannt. Niemand durfte weinen; denn es war ein
Geschenk, etwas Besonderes, wenn ein Angelito zum Himmel gerufen wurde. Auch die
Mutter hatte nicht zu weinen und schon gar nicht der Vater. Aber von dieser Haltung war
Timo meilenweit entfernt.
Er hatte das Velorio gar nicht mit gemacht; hatte in einer Ecke des Patios im Hause seiner
Schwiegereltern dem Treiben angewidert zugesehen. Er wäre gern mehr als einmal zu der
Menge gestürzt, hätte sie angeschrieen und am liebsten verscheucht. Aber er war zu matt
gewesen, zu niedergeschlagen, ohne jedes Feuer.
Jetzt aber bohrte diese Wut wieder in ihm, wollte sich Luft machen, wollte sich äußern,
zumindest in seinen unterdrückten Gedanken. Diese Wut auf alles! Auf alles, was und wer ihn
umgab: Dieses dreckige Nest Berón, dieser schmutzige Weg, den sie jetzt hinaufstiegen,
eingerahmt von einer zusammengekleisterten Kette von Häusern, die es noch nicht mal
schafften, zwei Meter hoch zu wachsen. Unverputzte, lehmige Wände, die vom Boden her
grünlich besudelt waren; unvollendete Ziegelaufbauten auf manchen dieser armseligen
Hütten, ohne geringste Anzeichen dafür, einmal fertig gestellt zu werden. Berón:
Viertausendzweihundert Meter über dem Meeresspiegel! Mit einem Sauerstoffgerät schlief er
jede Nacht, wenn er überhaupt schlief! Wenn es wenigstens noch Tarma wäre, zwölf
Kilometer von Berón entfernt, größer, niedriger gelegen, wenn auch nicht viel ansehnlicher
aber näher zur geteerten Strasse, die von Huancayo nach Lima führte. Die Menschen, die in
Berón wohnten, sie lebten nicht viel anders als vor ein paar hundert Jahren; Menschen, die
den Tod eines Kindes zum Feiern nutzten, sich besauften.
Er fluchte über Oscar und Juana, seine Noch-Schwiegereltern. Zwar lebten sie nicht so
ärmlich, wie die meisten anderen in Berón, waren rechtschaffen und bescheiden, führten einen
Abasto, einen kleinen Lebensmittelladen, im Zentrum des Kaffs. Und sie wohnten immerhin
zweistöckig mit einem kleinen Patio in der Mitte des viereckigen Baus aus Adobe. Etwas
spanisches Blut ließ sie weniger indianisch aussehen. Aber sie und er waren sich nie näher
gekommen, nicht vor ein paar Jahren, als sie vier Wochen zu Besuch in München waren und
schon gar nicht hier in Berón, wo er zweimal Verónica zuliebe hergekommen war.
Veronica hatte vom spanischen Blut weit mehr als ihre Eltern profitiert; sie war eine exotische
Schönheit gewesen, als er sie völlig verzückt und vernarrt nach Deutschland verschleppte und
sie – allen Unkenrufen von Freunden zum Trotz – in München heiratete.
Nur standesamtlich lief das ganze ab, um nicht ihre Eltern und Verwandten dem illustren
Kreis vorführen zu müssen. Er hatte eben heimlich geheiratet, so wie das auch ein paar seiner
Freunde in Las Vegas gemacht hatten, aus welchen Gründen auch immer.
Ein Irrweg war diese Ehe gewesen, jetzt noch mehr, da Chantal, der einzige verbliebene
Lichtblick in den letzten Jahren, tot war.
Und dass es Chantal nicht mehr gab, daran trug Veronica eine Mitschuld. Eine gewaltige
sogar! Sie hatte sich urplötzlich aus dem Staub gemacht. Mit Chantal! Und feige hatte sie es
angestellt! Heimlich, als er verreist war!
Ja, es hatte eine Auseinandersetzung am Abend vor seiner Reise gegeben, wie so oft und
diesmal hatte er ihr sogar eine Ohrfeige gegeben, doch eigentlich nur, um sie aus ihrem
Wahn schlimmster Anschuldigungen gegen ihn, die sich auf nichts gründeten, wach zu
rütteln.
Wieder drohte der Sarg fast auf den Boden zu rutschen. Timo zerteilte sofort mit rudernden
Armen die Menge, stieß vor, um noch einzugreifen, rempelte dabei leichtfertig eine alte Frau
um. Wütende Blicke von Männern mit derber, dunkel gegerbter Indianer-Haut streiften ihn.
Feindselige Mienen.